Das Vergissmeinnicht
Wir wollen nicht vergessen werden und auch Wichtiges nicht vergessen. Darum feiern wir am 8. Mai 22 Muttertag und das Ende der NS-Diktatur. Auch wenns um unsere Beziehung zu Gott geht, gibts ein Vergessen und ein Gefühl der Vergessenseins.
Die Blume „Vergissmeinnicht“
Liebe Gemeinde,
momentan sprießen sie wieder: Die Vergissmeinnicht! Manchmal entdeckt man sie einzeln in der Wiese, und an manchen Orten bilden sie fast schon einen richtigen blauen Teppich. Ich finde: Das ist eine traumhafte Farbe, dieses besondere samtige Blau mit dem gelben Punkt in der Mitte.
Aber was haben die mit dem Wunsch „vergiss mich nicht“ zu tun? Schon zu Luthers Zeiten war dieser Name bekannt. Später hat ein Wissenschaftler vermutet, es könnte daher kommen, dass die blauen Blüten an die glänzenden Augen von frisch Verliebten erinnern. Und angeblich war es eine Zeitlang ein Brauch, dass junge Männer ihrem Schwarm ein Vergissmeinnicht geschenkt haben, um sie der eigenen Treue zu versichern. Vielleicht hat das damit zu tun, dass es auch das „wilde Vergissmeinnicht“ gibt, dass früher den Namen „Männertreu“ hatte.
Niemand will vergessen werden
Vergissmeinnicht: Vergessen werden will eigentlich niemand! Wenn alle aus deinem Umfeld auf einen Geburtstag eingeladen sind, aber du nicht! Wenn bei einer Veranstaltung allen Helfern namentlich gedankt wird … aber irgendwie taucht dein Name nicht auf. Man stelle sich vor: Du hast Geburtstag, und keiner schaut vorbei, oder ruft dich an.
Das Gefühl, vergessen worden zu sein ist schlimm. Es nagt am eigenen Selbstwert, tut manchmal richtig weh. Auch wenn die, die einen da wohl vergessen haben, es gar nicht mit böser Absicht getan haben. Kirchengemeinden können ein Lied davon singen: Wie es Menschen enttäuschen kann, wenn es mit Geburtstagsbesuchen mal nicht klappt, oder der Name eines Verstorbenen in den Abkündigungen fehlt.
Wir wollen nicht vergessen oder übersehen werden. Auch der, der eigentlich nie in Mittelpunkt stehen will, dem es sogar unangenehm ist, den beschleicht ein komisches Gefühl, wenn ihn einmal gar niemand mehr wahr nimmt. Wenn er den Eindruck gewinnt: Eigentlich ist es egal, ob ich da bin, oder nicht.
Unsere Kultur des nicht Vergessens
Haben wir deshalb eine so vielfältige Kultur des Erinnerns und Nich-Vergessen-Wollens?
Heute ist Muttertag. Eigentlich müsste man sich keine Gedanken darum machen, dass die Mütter vergessen werden. Eine Mutter vergisst man nicht. Da sind so viele prägende Erinnerungen, so viele innere Bilder in uns – wie soll man das jemals vergessen? Mütter, die Heldinen unserer Kindheit.
Aber … wir wissen: „Vergissmeinnicht“ – es geht nicht darum, dass man tatsächlich vergessen wird. Sondern es geht darum, dass diejenige, um die es da geht, auch persönlich ein Eindruck gewinnt:
Ich werde gesehen.
Man nimmt mich wahr.
In bin wertgeschätzt und geliebt.
Man vergisst mich nicht – auch wenn die Kinder schon längst aus dem Haus sind.
Ein Blick in den Kalender erinnert auch: Heute ist der 8. Mai – an diesem Tag endete 1945 der Zweite Weltkrieg. In vielen Ländern Europas wird dieser Tag als Feiertag, als Tag der Freiheit oder Befreiung begangen. Und so sichergestellt, dass man ihn nicht vergisst.
Bei uns ist das kein Feiertag geworden. Aber auch diesem Datum gehört ein Vergissmeinnicht. Denn mit diesem Tag endete für unsere Vorfahren auch ein Regiment, das das eigene Volk terrorisierte, Freiheit – auch Glaubensfreiheit – gewaltsam unterdrückte. Das mit mit verlogener Propagada die Menschen dazu brachte Minderheiten zu hassen und einen verbrecherischen Krieg zu bejubeln.
Eigentlich Schade, dass wir nur den Volkstrauertag haben, um der Opfer jener Zeit zu gedenken – und die Freude und Dankbarkeit über die wiedergewonnene Freiheit hat keinen Feiertag.
Passah – Gedenke der geschenkten Freiheit
Wenn ich da in meine Bibel schaue: Da läuft das anders! Jedes Kind bei uns kennt die Geschichte von Moses Auszug aus Ägypten. Das ist die Erzählung der Befreiung der Israeliten unter der Führung des Mose aus der Unterdrückung in Ägypten. Eine politische Angelegenheit – ein Volk erringt die Freiheit und gründet an neuer Stelle eine neue Gesellschaft. Naja, vielleicht doch nicht nur politisch: Denn die Geschichte wird erzählt als ein Weg, den Gott ihnen gezeigt hat, ein Weg auf dem viele kleine und große Wunder es ermöglicht haben, dass Freiheit Wirklichkeit wurde.
Das Passah-Fest, das ja auch Jesus mit seinen Jüngern gefeiert hat, ist ein Vergissmeinnicht-Fest. Wir wollen nicht vergessen, dass Gott uns einst die Freiheit als Volk geschenkt hat.
Gottes “Vergissmeinnicht“
Natürlich ist unsere Bibel nicht nur angefüllt mit wunderbaren Geschichten, die es wert sind, dass man sich an sie erinnert. Es kann auch genau andersrum laufen:
Nämlich dass wir Menschen vergesslich sind. Seitenweise finden wir im Alten Testament die Klage, dass das Volk, das einst Gottes Befreiung aus Ägypten bejubelt hat, Generationen später das alles scheinbar vergessen hat.
Der Prophet Jeremia beklagt es: Meine Landsleute sind gegenüber Gott wie eine treulose Ehefrau. Er hat ihnen alles geschenkt, war immer für sie da, aber sie nehmen das alles als selbstverständlich und werfen sich nächstbesten an den Hals.
Vergissmeinnicht … das klappt nicht immer.
Ein bisschen hat man den Eindruck, dass die Beziehung des Volkes Israel das ist, was man heutzutage eine On-Off-Beziehung nennt. Mal sind die ein Herz und eine Seele – und dann gibt’s Phasen, da ist Funkstille: Man hat sich nichts zu sagen – und will sich vom anderen, also von Gott, auch nichts sagen lassen. Bis irgendwann die nächste Krisensituation doch mal wieder zum Umdenken führt.
Wer hinrichend selbstkritisch ist, kommt wohl nicht drum herum, sich einzugestehen, dass es im eigenen Leben durchaus Momente gab, wo Gott mal nicht das ganze Denken und Handeln bestimmt hat. Wo man sein eigenes Ding gemacht hat und Gott spielte bei dem Ganzen keine Rolle.
Und wenn Gott mich vergisst?
Aber gibts das nicht auch andersherum? Gibt’s nicht auch Momente, in denen man sich vom Allmächtigen vergessen fühlt?
Wo man schreien möchte: Gott, hast du deine Menschenkinder vergessen? Wie geht das alles zusammen? Deine Liebe zu uns, deine Macht und die Katastrophen, die wir erleben?
Wie kannst du das alles zulassen?
Im Kleinen und im Großen.
Da reichen ja manchmal ein paar Minuten Nachrichten im Fernsehen, um seinen Wohnzimmertisch vollzupflastern mit Zetteln, auf denen Fragen stehen, die einen guten und gerechten Gott höchst unangenehm sein müssten. Und dann stehts du als Christ da, und zuckst mit den Schultern. Hast keine Antwort.
Vergissmeinnicht – das ist eine zarte Pflanze.
Feine, empfindliche Blätter.
Kleine Blättchen, aber sehr viele.
Ist es mit der Antwort auf meine Fragen auch so?
Ich hätte gerne den großen schlagenden Beweis, dass Gott alles im Griff hat.
Und es wäre so wundervoll, wenn es die eine Erklärung für all diese Gefühle der Gottverlassenheit gäbe.
Aber das Vergissmeinnicht ist anders.
Es sind eher so kleine Hinweise, so kleine Momente, die mich da immer wieder hoffen lassen.
Ich vergesse dich nicht, sagt Gott.
Du sagst: Gott hat mich im Stich gelassen, er hat mich längst vergessen! Aber ich sage dir: Kann eine Mutter ihren Säugling vergessen? Bringt sie es übers Herz, das Neugeborene seinem Schicksal zu überlassen? Und selbst wenn sie es vergessen würde – ich vergesse dich niemals! Weißt du? Unauslöschlich habe ich deinen Namen auf meine Handflächen geschrieben, das, was dir wichtig ist, habe ich ständig vor Augen! (nach Jesaja 49, 14-16)
In den letzten Zeilen habe ich aus dem Propheten Jesaja zitiert. Das war seine Antwort auf die Klagen des Volkes, das sich mal wieder als von Gott im Stich gelassen empfand.
Diese Vorstellung: Dass Gott mich genauso wenig vergessen wird, wie ein Mutter ihr kleines Kind.
Und das Bild: Dass Gott sich meinen Namen auf die Hand geschrieben hat.
Das sind meine kleinen Vergissmeinnicht-Bilder, die mir gut tun.
Bilder, die viele Menschen durch schwere Zeiten getragen haben.
Amen
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