Gedanken zum Thema Beschleunigung
Alles hat seine Zeit, haben wir vorhin gehört. Schön, wenn wir wenigstens für alles Zeit hätten! Aber die haben wir nicht.Oft genug sind wir gehetzt – vom einen Termin zum Anderen.
Unsere Autos fahren immer schneller, die Pizza aus der Tiefkühltruhe ist in 15 Minuten fertig, dank DSL geht das Internetsurfen blitzschnell, das G8 im Gymnasium trichtert unseren Kindern den Stoff in 12 statt 13 Jahren ein … und doch haben wir hinten und vorne zu wenig Zeit.
In dem Maße, in dem wir Zeit sparen, rinnt sie uns durch die Finger. Ein seltsames Phänomen. So unerklärlich, wie die Beobachtung eines Mannes, der mit tiefer Überzeugung sagt: Jetzt bin ich zwar in Rente; habe gedacht, dass alles anders wird, aber hab trotzdem nie Zeit.Beschleunigung kennzeichnet unsere Welt. Wir hoffen, alles schneller zu machen, Zeit zu gewinnen – und doch geht sie uns genauso beschleunigt wieder verloren.
Eigentlich tragisch: Es sieht nach einem aussichtslosen Kampf aus. Inzwischen ist das sogar bei den Profis der Beschleunigung angekommen: Bei den professionellen Zeitmanagern, die Unternehmenschefs und Leistungsträger beraten. Über Jahre hinaus haben sie ihren Kunden versucht beizubringen, wie sie ihren Terminkalender möglichst effektiv vollstopfen, Dinge möglichst schnell und rationell erledigen. – Oft mit sehr mäßigem Erfolg.
Inzwischen hat sich das Blatt gewendet: Lothar Seiwert, einer der herausragenden deutschen Zeitmanagement- Professoren hat einem seiner letzten Bücher den Titel gegeben: „Wenn du es eilig hast, gehe langsam”: Es signalisiert einen Paradigmenwechsel im modernen Zeitmanagement : Es geht nicht mehr darum, in immer kürzerer Zeit immer mehr Dinge zu erledigen. Sondern es geht im Zeitmanagement darum, zunächst einmal in aller Ruhe zu bedenken:
– Was will ich überhaupt erreichen?
– Welche Ziele setze ich mir.
Und daraus ergibt sich, was ich tun muss, und welche Aufgaben auch unwichtig sind – wo ich „nein” sagen muss. Und daraus resultiert für den Zeitmanagment-Profi ein Tip, den fromme Leute schon längst kennen:
Lass dir Zeit, nehme dir täglich eine Stunde, eine stille Zeit, in der du über deine Ziele und den kommenden Tag nachdenkst. Und gönne dir in der Woche einen Ruhetag.
Entschleunigung nennt man das im Fachchinesisch. Sich Zeit zu nehmen für das, was wichtig ist – nicht alles mitzubekommen, sondern bewusst auszuwählen und eben nicht alles mitzunehmen, was erreichbar ist. Tempo herauszunehmen – so absurd das klingt – kann schon ein erster Schritt sein zu mehr Gelassenheit und Zeit.
Ein Weiser wurde gefragt, warum er trotz seiner vielen Beschäftigungen immer so ausgeglichen sein könne.
Er sagte: „Wenn ich stehe, stehe ich,
wenn ich gehe, gehe ich,
wenn ich sitze, sitze ich,
wenn ich esse, esse ich …“
Da fielen ihm die Fragesteller ins Wort und sagten: „Das tun wir auch, aber was machst Du darüber hinaus?“
Er sagte: „Wenn ich stehe, stehe ich,
wenn ich gehe, gehe ich,
wenn ich … “
„Aber das tun wir doch auch!“, unterbrachen sie ihn.
Er aber sagte zu ihnen:
„Nein –
wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon,
wenn ihr steht, dann lauft ihr schon,
wenn ihr lauft, dann seid ihr schon am Ziel.“
Lied 580 3-4 Daß du mich einstimmen lässt
Predigt Teil 2
„Die Entdeckung der Langsamkeit” – diesen Titel trägt ein Roman von Sten Nadolny. Seine Hauptperson ist John Franklin. Ein Junge mit einer ganz außergewöhnlichen Behinderung: Er ist langsam! Er denkt langsam, er bewegt sich langsam und er schaut auch langsam. So heißt es darin:
John Franklin war schon zehn Jahre alt und noch immer so langsam, dass er keinen Ball fangen konnte. Er hielt für die anderen beim Volleyball die Schnur. Vom tiefsten Ast des Baums reichte sie herüber bis in seine emporgestreckte Hand. Er hielt sie so gut wie der Baum, er senkte den Arm nicht vor dem Ende des Spiels. Als Schnurhalter war er geeignet wie kein anderes Kind.
Vielleicht war in ganz England keiner, der eine Stunde und länger nur stehen und eine Schnur halten konnte. Er stand so ruhig wie ein Grabkreuz, ragte wie ein Denkmal. „Wie eine Vogelscheuche!“ sagte Tom Barker.
Dem Spiel konnte John nicht folgen, also nicht Schiedsrichter sein. Er sah nicht genau, wann der Ball die Erde berührte. Er wusste nicht, ob es wirklich der Ball war, was gerade einer fing, oder ob der, bei dem er landete, ihn fing oder nur die Hände hinhielt. Er beobachtete Tom Barker. Wie ging denn das Fangen? Wenn Tom den Ball längst nicht mehr hatte, wusste John: Das Entscheidende hatte er wieder nicht gesehen. …
Was soll aus so einem werden? Diese Frage haben sich alle gestellt. Aber es wurde etwas aus John: Er ging zur See, wurde Navigator und später Kapitän von Expeditionen. Dort musste man nicht immer schnell sein. Dort lernte er seine besondere Fähigkeit zu schätzen: Er konnte wie kein anderer langsame Bewegungen wahrnehmen; da was beim schnellen Hinschauen übersehen wurde, das konnte er erkennen. Ob es die Bewegung der Sonnenblumen war, die der Sonne folgten oder die Bewegung des Mondes am Himmel.
Bei einer Fußwanderung mit einer Expeditionsgruppe im Packeis am Polarkreis geschah dann etwas, was keiner verstand: Obwohl sie genau dem Kompass folgten, kamen sie nicht zu ihrem Schiff zurück. Sie hatten sich anscheinend verlaufen.
Weil dicker Nebel aufkam, mußte jeder Mann den anderen an der Jacke fassen. Auf den eigenen Spuren wollten sie zum Schiff zurückwandern, John Franklin kontrollierte die Richtung mit dem Kompass. Aber an den Spuren fiel auf, dass sie merkwürdig frisch waren, zudem wurden sie immer zahlreicher. Dem Kompass und der Zeit nach hätte die Gruppe schon längst wieder beim Schiff sein müssen.
Sie hatten sich verirrt und waren im Kreis gelaufen. John befahl, ein Notlager aus Eisplatten zu bauen. Sein Assistent machte keinen Hehl daraus, dass er lieber weitergegangen wäre, einfach querab von der bisherigen Richtung.
»Dabei bleiben wir warm, und irgendwo müssen wir ja ankommen!« »Ich nehme mir Zeit, bevor ich einen Fehler mache«, entgegnete Franklin freundlich. Er befahl, dass sich alle so warm wie möglich einpackten und um die Öllampe setzten. John kauerte und überlegte. Was die anderen ihm auch sagten, Vorschläge, Theorien, Fragen – er nickte nur und überlegte weiter.
Selbst als ein Matrose zu eine anderen hinüberraunte: »Du hattest recht mit der … Behinderung” , schob John alle Fragen, die sich stellen ließen, weit weg. Er brauchte jetzt nur Zeit.
Eine Weile später fragte der Assistent: » Wollen wir hier einfach nur warten, Sir?« Aber John war immer noch nicht fertig. Mochte auch der Tod bevorstehen, das war kein Grund, eine Überlegung vorzeitig zu beenden. Schließlich stand er auf: »Das ganze Eisfeld, auf dem wir stehen, dreht sich. Es ist die einzige Lösung. Deshalb gehen wir im Kreis, auch wenn wir nach dem Kompass immer in derselben Richtung marschieren. Bei Wind hätten wir es sofort gemerkt.«
John berechnete daraus eine neue Marschroute, Stunden später vernahmen sie rufende Stimmen, schließlich wurden Männer mit Seilen sichtbar, und hinter ihnen, kaum hundert Fuß entfernt, das Heck des Schiffes.
»Sie haben ein Schweineglück, Sir!« bemerkte sein Assistent erleichtert und frech, aber von Geringschätzung war nichts zu spüren, im Gegenteil. Er verzog das Gesicht. Und der Matrose von Vorhin raunte dem Assistenten zu: » Wenn wir auf dich gehört hätten, wären wir jetzt sonstwo, und zwar als Eiszapfen!«
Die Entdeckung der Langsamkeit! Der bedächtige Blick, das gründliche Nachdenken hat den Männern das Leben gerettet. „Bleib nicht stehen, wir müssen weiter, wir können nicht einfach warten und nachdenken. Die Zeit rennt uns davon. Du musst noch mehr Leute heilen und mehr den Leuten erklären” – Das haben auch die Jünger wohl auch öfter zu Jesus gesagt.
Und er? „Und als er sie fortgeschickt hatte, ging er hin auf einen Berg, um zu beten.” (Mk 6,46) Jesus nimmt Tempo raus. Er nutzt das Gebet als Gelegenheit, mit Gott zu reden, den Tag zu bedenken, Kraft zu schöpfen.
Phasen der Langsamkeit sind wichtig! Um Dinge zu erkennen, die man mit einem schnellen Blick nicht wahrnehmen kann. Franz von Sales hat eine interessante Regel aufgestellt: „Nimm dir jeden Tag eine halbe Stunde Zeit zum Gebet, außer wenn du viel zu tun hast, dann nimm dir eine ganze Stunde Zeit.”
„Huschlert” nennen wir Franken Menschen, die alles gleichzeitig und schnell irgendwie machen, aber eben nichts richtig. Und wir wissen auch, wie uns solche Menschen auf die Nerven gehen können. Da ist es sicher gut, wenn wir uns in acht nehmen, und uns Zeit gönnen. Denn jeder Tag hat 24 Stunden. Wer sagt, er hat keine Zeit, muss sich fragen lassen, wo er denn seine Zeit hintut … wen er über seine Zeit bestimmen lässt. Und ich weiß, dass ich als Pfarrer da gerade dabei bin, im Glashaus sitzend mit Steinen zu werfen. Wir müssen uns das auch oft selber predigen: Dass es sinnvoller ist, weniger Dinge mit Bedacht zu tun, als tausend Dinge irgendwie schnell mal.
Die Entscheidung, was man liegen lässt, ist oft schwer, und auch die braucht Zeit. Das ist kein einfacher Weg, da kann man sich nicht von heute auf Morgen umstellen – auch in der Veränderung ist eine solide Langsamkeit besser als ein kurzlebiger Schnellschuss. Und vielleicht geschehen mit unserer Zeit auch noch Wunder, so wie in der wunderbaren Zeitvermehrung:
Lothar Zenetti hat sie in Anlehnung an die wundersame Brotvermehrung verfasst:
Jesus zog sich zurück. Mit einem Boot fuhr er über den See an einen abgelegenen Ort, um allein zu sein. Die Volksscharen in den Städten hörten davon und folgten ihm zu Fuß nach. Als er die Augen erhob, sah er, wie viele Menschen um ihn versammelt waren und wie viele noch herandrängten. Und er empfand Mitleid mit ihnen und heilte die Kranken. Als es Abend wurde, traten seine Jünger zu ihm und sprachen: „Herr, die Zeit ist vorgerückt, es ist spät. Entlasse die Menge. Sie haben keine Zeit und wir auch nicht.“ Da wandte sich Jesus an seine Jünger: „Weshalb sollen sie weggehen? Gebt ihnen doch Zeit, gebt ihnen von eurer Zeit!“ Da sagten sie zu ihm: „Wir haben ja selbst keine, und was wir haben, dieses wenige, wie soll das reichen, um uns um alle und am Ende noch um jeden einzelnen zu kümmern?“
Doch fand es sich, dass einer von ihnen noch fünf Termine frei hatte, dazu zwei Viertelstunden: Und Jesus lächelte und sagte: „Gut, das ist doch schon etwas. Stellen wir’s den Leuten zur Verfügung!“
Und er ließ die Volksscharen erneut Platz nehmen. Er nahm die fünf Termine, die sie hatten, und dazu die beiden Viertelstunden. Er blickte auf zum Himmel und sprach ein Segensgebet. Dann teilte er das Vorhandene auf und ließ austeilen die kostbare Zeit, die sie hatten, durch seine Jünger an die vielen Leute. Und siehe da: Es reichte nun das wenige für alle. Keiner ging leer aus. Ja, sie füllten am Ende noch zwölf Tage mit dem, was übrig war an Zeit. Und dabei waren es an die 5000 Männer, die Frauen und Kinder gar nicht gerechnet.
Es wird berichtet, dass die Jünger staunten. Denn alle sahen es: Selbst das Unmögliche wird möglich durch ihn.
Amen