„Bin ichs?“ fragen die Jünger beim letzen Abendmahl, als Jesus vom verrat spricht. Diese Predigt wirft auch ein Blick in den Film „Der neunte Tag“ von Volker Schlöndorff. Darin diskutiert es Priester mit einem Gestapo-Chef um den Wert des Verrats.
Liebe Gemeinde,
der Verrat des Judas ist ein zentrales Element des Berichts vom letzten Abendmahl Jesu und von seiner Gefangennahme. Und sofort erscheint uns traditionell das Tun des Judas als verwerflich, schließlich ist er damit der Auslöser des Leidens und Sterbens Jesu. Zumindest auf diesen ersten Blick ist es klar, dass der Verrat durch Judas eindeutig zu verurteilen ist. Ich möchte ihnen eine Szene aus dem Film „der neunte Tag” zeigen.
Er spielt zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Hauptperson ist der katholische Priester Henry Kremer. Er hatte im von Deutschland besetzen Luxemburg gegen die Nationalsozialisten Widerstand geleistet und war deshalb ins Konzentrationslager Dachau gekommen. Nun erhält er 9 Tage „Heimaturlaub” von der dortigen Hölle und einen Auftrag: Er soll den Bischof von Luxemburg dazu bewegen, sich öffentlich auf die Seite der Nationalsozialisten zu stellen und mit diesen zusammenzuarbeiten. Wenn ihm das gelingt, müsste er nicht mehr ins Konzentrationslager zurück. Auch die Familien seiner Geschwister würden nicht mehr von den Nazis gegängelt. Wenn er es nicht schaffen sollte, dass der Bischof die Nationalsozialisten unterstützt, würde man ihn in ein Lager im Osten schicken.
Der Priester ist innerlich zerrissen. Er ist ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus – und zugleich plagen ihn die furchbaren Bilder aus den Monaten in Dachau, und seine Verantwortung gegenüber seiner Familie, vor allem gegenüber seiner schwangeren Schwester. Täglich muss er beim Luxemburger Gestapo-Chef Gebhardt antreten, der ihn davon überzeugen will, genau das zu tun – was der Priester Henry Kremer nicht mit seinem Gewissen und seinen Überzeugungen vereinbaren kann: Den Luxemburger Bischof zur Kooperation mit den Nazis zu überreden.
Ich zeige ihnen eine Szene daraus. Eines der Gespräche zwischen dem Priester Henry Kremer und dem Gestapo-Chef. Es geht um die Frage, ob Kremer bereit ist, zum Verräter, zum Judas zu werden.
(Film 0:49:50- 0:53:42)
Wichtige Aussagen des Gestapo-Chefs in der Szene:
Ich aber behaupte: Judas war fromm. Vielleicht der Frömmste, den es je gegeben hat. Klar, er war ein Idealist, so etwas wie ein jüdischer Nationalrevolutionär. Mit Jesu‘ Hilfe plante er den großen Umsturz gegen die Könige, gegen die Reichen, gegen die Hohepriester(…)
Judas war ein Tatmensch. Er wollte etwas bewirken. Er sah in Jesus seinen weltlichen Führer. Aber Gott gab ihm einen anderen Auftrag.Allein Judas war unter den Jüngern stark genug, diesen Auftrag zu erfüllen. Ohne Judas keine Kreuzigung. Ohne Kreuzigung keine Erfüllung des göttlichen Willens. (…)
Sie verstehen mich. Im Gegensatz zu Ihrem Bischof, der das Neue an unserer Sache noch nicht begriffen hat. Judas’ Tun erlaubte die Erlösung. Denken Sie darüber nach. Es könnte eine große spirituelle Erfahrung für Sie sein. Für mich hat es sehr viel verändert.
Liebe Gemeinde,
die Botschaft des Gestapo-Mannes ist klar: Manchmal braucht es einen Verrat, und auch einen Verräter, um bestimmte Dinge zu bewegen und zu verändern. Der Verräter, als derjenige, der auch Opfer auf sich nimmt, um Großes zu vollbringen. Auch wenn zunächst das eigene Gewissen und möglicherweise auch bisherige Weggefährten dabei auf der Strecke bleiben.
Und mit einer gewissen Berechtigung bringt Gebhardt den Jünger Judas ins Gedanken-Spiel: Die Passionsgeschichte braucht einen Verräter, sonst gibt es keine Gefangennahme, keine Kreuzigung und keine Auferstehung.
Der Judas als ein notwendiges Puzzlestück in Plan Gottes.
So versteht sich der Gestapo-Chef Gebhardt selbst als Judas in einem positiven Sinn: Nur wer stark genug ist, so einen großen Verrat zu begehen, der wird auch etwas bewegen können.
Liebe Gemeinde,
vielleicht erschreckt Sie so eine Argumentation.
Oder Sie sind überrascht, darüber, dass die Überlegungen zur Rolle des Judas ja eigentlich ziemlich schlüssig erscheinen.
Oder Sie sind einfach davon angewidert, wie dieser Gestapo-Mann so ein grundsätzlich verabscheuungswürdiges Tun zur Heldentat stilisiert.
Unser Gottesdienst wäre überfrachtet, wenn ich versuchen würde, das hochkomplexe Thema des Verrats umfassend zu betrachten. Aber eines möchte ich heute abend versuchen: Aus der Perspektive der Jünger, die beim letzten Abendmahl Jesu dabei waren, der Frage nach dem Verrat an Jesus nachzugehen.
Lied 97 4-6 Holz auf Jesu Schulter
Jeder hat das Potential zum Verräter
Liebe Gemeinde,
und als sie bei Tisch waren und aßen, sprach Jesus: Wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch, der mit mir isst, wird mich verraten . Und sie wurden traurig und fragten ihn, einer nach dem andern: Bin ich’s?
So überliefern die Evangelien die Szene des letzten Abendmahls. Einer nach dem anderen stellt sich diese Frage: Werde ich derjenige sein, der ihn verrät, der Jesus in Stich lässt? – Sie alle sind sich ihrer eigenen Loyalität Jesus gegenüber nicht hundertprozentig sicher. Jeder ahnt: Es könnte ein Moment kommen, in dem ich Jesus verrate.
Der eine mag an grausame Folter durch die Gegner Jesu denken, die ihn dazu bringt, Jesu Aufenthaltsort preiszugeben.
Ein anderer vielleicht an eine Nachlässigkeit beim Gespräch mit Freunden.
Ein dritter spürt vielleicht, dass er selber Zweifel hat, dass er zwischen seinem Rabbi Jesus und den entschieden auftretenden Vertretern der Priesterschaft hin-und-her-gerissen ist.
Jeder der 12 Jünger fragt sich „bin ich́s?”.
Keiner wagt es, seine Hand für sich selbst ins Feuer zu legen. Auch von Petrus ist in diesem Moment nichts anderes zu hören. Und gerade er, der sonst gerne seine Treue Jesus gegenüber betont, wird in der kommenden Nacht selber erleben, wie es ist, dass man zum Verräter wird, wo man seine Zugehörigkeit zu Jesus verleugnet. Bis zum Hahnenschrei war er nur noch eine kurze Nacht.
Unsere Bibel beschreibt den Verrat an Jesus nicht als Heldentat, sondern als tragisches menschliches Versagen. Als einen Fehler, der das ganze eigene Leben fraglich werden lässt. Beim letzten Abendmahl sagt Jesus: weh aber dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre.
An diesen Worten zerbricht die Theorie des Gestapo-Manns Gebhardt, der Judas zum Helden des Heilsplans Gottes machen möchte.
Der Plan, den wir nicht sehen können
Überhaupt: Wir als Menschen müssen damit leben, dass wir nicht in Gottes Planungsbüro sitzen. Wir haben keine Einsicht, in die Wege, die er geht – und wir können ihm auch nicht vorschreiben, wie er es bitteschön „gut” zu machen hat. Das einzige, was wir haben, ist das Geschenk, dass wir im Nachhinein dem, was geschehen ist, einen Sinn ab-ringen können. Der Verrat des Judas, die Gefangennahme Jesu, sein Tod am Kreuz waren für die Jünger Jesu maximale Katastrophen. Da gabs keinen Plan zu erkennen, und keinen Lichtblick.
Erst nach Ostern. Erst, als Jesus den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus erklärt hat, dass es so kommen musste, und es ihnen anhand der Worte ihrer Heiligen Schrift aufzeigte. Erst aus diesem Rückblick konnten sie zustimmen: Ja, es war schlimm, aber es war ein Plan Gottes, der uns eben nicht bekannt war.
So mancher Mensch hat das ähnlich erlebt. Eine persönliche Katastrophe – ein Schicksalsschlag, der alles in Frage stellt und an dem es nichts Gutes zu erkennen gibt – nur Schlimmes. Man leidet daran, aber geht seinen Weg weiter, so gut es geht. Und irgendwann blickt man zurück, und erkennt, dass dieser Weg doch ein guter Weg war, einer, dem man etwas Gutes abgewinnen kann, der an ein gutes Ziel geführt hat. Ein kleines persönliches Ostererlebnis: Der Moment, wo man anerkennt, dass das alles doch irgendwie einen sinnvollen Zusammenhang hat.
In der Gemeinde ist es anders als in der Politik
Ein letzter Gedanke, der aus dem Film heraus direkt in unsere Gegenwart ragt: Die Frage, ob nicht manchmal ein Verrat als Tat geboten ist, um ein Ziel zu erreichen. Damit wollte der Gestapo-Chef ja den Priester Henry Kremer ködern.
Ist Verrat manchmal eine gute Tat?
Dabei hat er geschickt verschleiert, dass diese Frage davon abhängt, was oder wen man verrät! Verrat ist ja das Ende der Treue, das Ende der Loyalität zu etwas.
Wenn ein Schüler nicht mehr mitmacht, wenn alle den Außenseiter piesacken und mobben. Dann ist das ein Verrat an einem furchtbaren Spiel in der Klasse. Und kein vernünftiger Mensch wird diesen Verrat verurteilen. Denn Mobbing und Ausgrenzung verdient keine Loyalität.
Wo andere mich durch Geschenke versuchen, für ihre Sache gewinnen – verdient so etwas Loyalität?
Wo ein guter Freund versucht, mich als falschen Zeugen für sein Alibi in einer Fahrerflucht zu gewinnen – hat er dafür meine Loyalität verdient? Oder ist es nicht eher sein Opfer, das darauf angewiesen ist, dass ich Verrat an dieser scheinbaren Freundschaft begehe?
Als Christen gehören wir nicht irgendeiner Gruppe.
Wir gehören einem himmlischen Herrn – und ihm gehört unsere Treue und Loyalität.
Das ist der Maßstab. Daran sollten wir unsere Überlegungen zum Verrat oder Nicht-verrat messen.
Apropos Maßstab:
In der Politik heißt es: „Der Verrat wird geliebt, aber der Verräter wird gehasst”.
Im Glauben, mit uns Menschen, die nie über alle Zweifel und Fehler erhaben sind – denken wir an Petrus und den Hahnenschrei – gilt es anders:
Gott hasst die Sünde, aber er liebt den Sünder.
Gott hasst den Verrat, aber er liebt uns auch wo wir Verräter sind.
Amen