498 Jahre nach dem Thesenanschlag ist die Angst vor der Hölle der Angst vor dem Urteil der anderen Menschen gewichen. „Bin ich in Ordnung, bin ich gut genug?“ Mit dieser Frage geht es auf Röm 3, 21-28 zu.
Predigttext Römer 8, 21-28 (Übersetzung: Hoffnung für alle)
21 Jetzt aber hat Gott uns gezeigt, wie wir vor ihm bestehen können, nämlich unabhängig vom Gesetz. Dies ist sogar schon im Gesetz und bei den Propheten bezeugt.
22 Gott spricht jeden von seiner Schuld frei und nimmt jeden an, der an Jesus Christus glaubt. Nur diese Gerechtigkeit lässt Gott gelten. Denn darin sind die Menschen gleich:
23 Alle sind Sünder und haben nichts aufzuweisen, was Gott gefallen könnte.
24 Aber was sich keiner verdienen kann, schenkt Gott in seiner Güte: Er nimmt uns an, weil Jesus Christus uns erlöst hat.25 Um unsere Schuld zu sühnen, hat Gott seinen Sohn am Kreuz für uns verbluten lassen. Das erkennen wir im Glauben, und darin zeigt sich, wie Gottes Gerechtigkeit aussieht. Bisher hat Gott die Sünden der Menschen ertragen;
26 er hatte Geduld mit ihnen. Jetzt aber vergibt er ihnen ihre Schuld und erweist damit seine Gerechtigkeit. Gott allein ist gerecht und spricht den von seiner Schuld frei, der an Jesus Christus glaubt.
27 Bleibt uns denn nichts, womit wir uns vor Gott rühmen können? – Nein, gar nichts! Woher wissen wir das? Etwa durch das Gesetz, das unsere eigene Leistung verlangt? Nein! Nur durch den Glauben, der uns geschenkt ist.9
28 Also steht fest: Nicht wegen meiner guten Taten werde ich von meiner Schuld freigesprochen, sondern erst, wenn ich mein Vertrauen allein auf Jesus Christus setze.
Rechtfertigung – einst vor Gott … jetzt vor den Menschen
Liebe Gemeinde – unser Predigttext gehört zu den zentralen Bibelstellen, die Luther geholfen haben, zu verstehen, wie Gott uns Menschen nach jesu Tod und Auferstehung sieht:
Gott spricht jeden von seiner Schuld frei und nimmt jeden an, der an Jesus Christus glaubt
– „Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben“
– „Vergebung unserer Schuld“
Diese zentralen Gedanken der Reformation vor fast 500 Jahren sind uns mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen. Das Fegefeuer kennt man nur noch aus dem Geschichtsunterricht. Angst vor einem jüngsten Gericht ist ein Nischenphänomen.
Dass Gott uns sowieso vergibt und uns so annimmt, wie wir sind; das scheint sich als eine eigene Art von Glaubensbekenntnis zu etablieren. Wenn du fragst, worum es im Glauben geht: Immer wieder kommt das Bild eines universell-freundlichen Gottes, der sowieso nichts anderes will, als uns glücklich zu machen, und dem deshalb so ziemlich alles andere egal ist.
Erstaunlich, wie die Reformation diese Kirche durchdrungen hat. Dort wo einst die Angst vor Gott und die Verunsicherung, ob man denn Gottes Anforderungen gerecht wird, die Leute geplagt hat, da ist eine Freiheit gewachsen, die sich Luther nie hätte träumen lassen.
Denn er kannte das aus eigener Erfahrung: den Zwang alles richtig zu machen, sich den gesetzten Normen anzupassen. Die Frage, ob man denn alles recht macht, ob man denn passt, – das alles gibts heute nicht mehr. Oder vielleicht doch?
Die bohrende Frage, ob man denn gut genug aussieht, ob man noch konkurrieren kann mit den mageren Models der Casting-Shows. Sind meine Beine lang genug, der Bauch flach genug, die Busen groß genug? Wieviele „Likes“ bekomme ich, wenn ich mein Selfie auf facebook poste?
Die schweißnassen Hände beim Kalkulieren des Hausbaus: Können wir es uns denn leisten, die Doppelgarage, den extra-Erker, den professionell angelegten Garten? Aber was hilfts, die andern habens ja auch! Das muss dann halt irgendwie gehn.
Man fragt dich als Flüchtling nicht nach deinem Ergehen, dem Schicksal deiner Familie, die noch in Syrien ist. Sondern man will wissen, ob du auch einer von den hochqualifizierten Ingenieuren bist, oder zumindest Facharbeiter… weil sonst kann man dich nicht gebrauchen.
Die seltsamen Anspielungen des jungen Kollegen, der so beiläufig erwähnt, dass du dies oder jenes in deinem Alter halt nicht mehr hinbekommst, da müssen halt die Jungen, die fitten Leute ran. Und du überlegst, ob du für die Firma bald nur noch als überflüssige Kostenstelle angesehen wirst.
Liebe Gemeinde,
unglaublich, wie sich das Thema Rechtfertigung durch die Jahrhunderte verschoben hat! Die Frage der Rechtfertigung des Sünders vor Gott hat sich zunehmend erledigt. Und zeugleich rückt die Frage der Rechtfertigung des nicht-perfekten Menschen von den anderen Menschen in den Mittelpunkt.
Aber im Kern bleibt die bohrende Frage: Wie geht es in Ordnung, dass ich nicht in Ordnung bin?
Rechtfertigung – gerechtfertigt und doch ziemlich viel Sünder
Schauen wir doch einmal darauf, was diese zentrale Bibelstelle auch heute noch beitragen kann. Paulus hat es im Römerbrief eigentlich klar auf den Punkt gebracht: „Alle sind Sünder und haben nichts aufzuweisen, was Gott gefallen könnte. Aber was sich keiner verdienen kann, schenkt Gott in seiner Güte: Er nimmt uns an, weil Jesus Christus uns erlöst hat.“ (Röm 3, 23-24)
Oder mit anderen Worten:
Wir alle haben Fehler,
wir alle haben Schwächen
wir alle haben unsere Macken, wir wissen, dass es „anders“ besser, schöner und idealer wäre, aber wir kriegen es eben nicht hin.
Wobei … ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob Luther bei dieser Wortwahl glücklich wäre. Denn wenn ich von Schwächen und Macken rede, klingt es recht harmlos, als wäre ja sonst alles in perfekt.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass Luther uns gerne etwas mehr Bewusstsein unseres abgrundtiefen Sünderseins gönnen würde. Und ich höre ihn in der Studierstube seines Wittenberger Pfarrhauses schimpfen:
Hey, ihr Menschen im Jahr 2015! Ihr seid schon ganz besoffen von dem süßen Wein der Rechtfertigung. Ihr habt anscheinend nicht richtig zugehört! Was hat Paulus gesagt: Ihr seid Sünder und durch den Glauben Gerechtgesprochene? Beides!!
Also ihr Sünder… tut nicht so, als wäre alles in bester Ordnung. Schaut nur darauf, was ihr tagtäglich so alles verbrecht! Gesteht es euch doch ein, dann kann man auch was dran ändern! Wenn ihr euch selber alles schönredet, hilft euch das nicht weiter.
Puh … das hätte ich mir von Luther anders gewünscht …
Aber irgendwie hat er ja recht. Rechtfertigung macht uns nicht zu besseren Menschen. Das Grundproblem unseres Sünderseins bleibt – und es verschärft sich, indem es zunehmend ein System-Problem wird.
Wir Menschen haben unsere Welt in den letzten Jahrzehnten immer komplexer und globalisierter gemacht. Wir sind umgeben vom Abhängigkeiten und Zwängen. Da ist man oft nicht mehr Herr aller seiner Entscheidungen, sondern muss reagieren, muss handeln, auch wenns einem oft anders lieber wäre. Ich würde meinen Hof, oder mein Pfarramt vielleicht gerne anders führen, aber es geht nicht anders, weil die Rahmenbedingungen, Gesetze, Verordnungen, wirtschaftliche Zwänge es anscheinend gar nicht anders zulassen. Ich hab mal versucht, ein Smartphone zu finden, das wirklich fair ist. Gibts nicht! – Das „beste“ konnte lediglich garantieren, dass der Zusammenbau vernünftig bezahlt wird, und beim Kauf der Rohstoffe keine kriminellen Organistionen beteiligt sind – aber die Metalle, aus denen das Ding und sein Akku gemacht wird, werden nun mal überall unter ausbeuterischen und lebensschädigenden Bedingungen aus der Erde geholt.
Wir haben oft keine andere Wahl – aber das macht es ja nicht automatisch „gut“. Da sind wir Handelnde eines Systems und machen mit.
Rechtfertigung: Vor Gott und eben auch vor den Menschen
Alle sind Sünder und haben nichts aufzuweisen, was Gott gefallen könnte … das diagnostiziert Paulus erstaunlich nüchtern.
Er sagt aber auch: Wenn du dich Jesus anvertraust, dann erlebst du, dass Gott dir sagt: Es ist in Ordnung, dass nicht alles in Ordnung ist. Sünder sein und Rechtfertigung, Vergebung zu erleben. Das gehört zusammen.
Diesem Jesus am Kreuz ist es zu verdanken, dass es möglich ist, dass meine Schuld und meine Sünde mir nicht zum Fallstrick werden können. Und allein mein Glaube an Jesus Christus ist der Schlüssel dazu, dass ich vor Gott gerechtfertigt bin.
– Und damit naturgemäß auch vor den Menschen. Denn wer will mir am Zeug flicken, wenn der Herr der Welt sagt: „Ich erkläre hiermit, du bist in Ordnung!“
Weil Gott uns rechtfertigt, müssen wir uns nicht laufend vor Anderen selbst-rechtfertigen, nicht laufend selbst-optimieren.
Die Frage, das die Anderen, was „die Leute“ sagen, kann mir egal sein.
Mein Wert als Mensch ist durch die Liebe Gottes zu mir festgelegt, darum ist das Ranking, mit dem wir uns so gerne gegenseitig messen, ohne Bedeutung.
Und ich mag dick oder dünn, krank oder gesund sein – weil Gott zu mir „ja“ sagt, darf ich mich auf den Weg machen, auch mein Ja zu meinen empfundenen Defiziten machen.
Es ist schon erstaunlich: fast 2000 Jahre ist es her, dass Paulus die Zeilen unseres Predigttextes geschrieben hat, fast 500 Jahre ist es her, dass Luther dieser Rechtfertigung zu neuem Gewicht verholfen hat.
Aber ich muss dann doch für mich selber immer wieder ganz von vorne anfangen, das für mein eigenes Leben durchzubuchstabieren.
Amen