Predigt: Die Möglichkeiten hinterm eigenen Horizont (Johannes 5,1-16 ) 14. Oktober 2001

Unser Predigttext steht im Johannesevangelium im 5. Kapitel
1 Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem.
2 Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen;
3 in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte.
5 Es war aber dort ein Mensch, der lag achtunddreißig Jahre krank.
6 Als Jesus den liegen sah und vernahm, daß er schon so lange gelegen hatte, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden?
7 Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.
8 Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!
9 Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Es war aber an dem Tag Sabbat.
10 Da sprachen die Juden zu dem, der gesund geworden war: Es ist heute Sabbat; du darfst dein Bett nicht tragen.
11 Er antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin!
12 Da fragten sie ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin?
13 Der aber gesund geworden war, wußte nicht, wer es war; denn Jesus war entwichen, da so viel Volk an dem Ort war.
14 Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sündige hinfort nicht mehr, daß dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre.
15 Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe.
16 Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte.

Liebe Gemeinde,
Betesda und der bayerische Kurort Bad Füssing haben drei Dinge gemeinsam:
beide haben ein B am Wortanfang,
bei beiden spielt Wasser eine große Rolle,
Und an beide Orten kommen die Leute wegen ihrer Gesundheit.
Aber ich glaube, das sind wirklich auch die einzigen Gemeinsamkeiten von Bad Füssing und Betesda.
In der kleinen Teichanlage Betesda gibt es keine Massagepraxis, kein warmes Buffet, kein Kurkonzert und auch kein Spielcasino.

Das einzige, was es dort nahe dem Schaftor in Jerusalem gibt, sind fünf Säulenhallen, die in den Fels eingemeißelt sind, und jede Menge schwer kranker Menschen. Lahme, Blinde, Krebskranke.
Und der kleine Teich in der Mitte ist auch kein Whirlpool mit gehaltvollem Heilwasser. Wahrscheinlich war es ein Tümpel, indem nur ganz ganz selten Wasser aus tiefen Erdschichten nach oben sprudelte. Und dann, nur dann konnten die, die ins Wasser stiegen mit einer Heilung ihrer Krankheit rechnen.

Etwa ums Jahr 200 hat einer, der die Bibel abgeschrieben hat eine Erklärung dazu notiert, geschrieben, wie er sich dieses Phänomen erklärte. Von einem Engel schrieb er, der das Wasser bewegte und so für kurze Zeit zu einem heilenden Wasser machte. In manchen Bibeln finden Sie diesen Kommentar, der nicht vom Evangelisten Johannes stammt.

Egal, ob nun unterirdische Quelle oder Engel – Gott sei Dank, dass es diese Heilungschance in Jerusalem gab. Da ist es ja gut verständlich, dass jeder, dem der Arzt nicht helfen konnte, oder der einen Arzt nicht bezahlen konnte, auf Heilung am Teich Betesda hoffte…. und erwartete, dass das Wasser in Bewegung kommt und er der Erste ist, der dann hinein steigt.

— Unser Kranker

So, wie auch der Mann von dem unsere biblische Geschichte erzählt. 38 Jahre lang ist er schon krank gewesen. Die Bibel verschweigt uns, woran er litt. Vermutlich gehörte er zu den vielen Lahmen, die nach einer schweren Verletzung, oder einer Krankheit nicht mehr auf die Beine kamen.
38 Jahre! Mehr als ein halbes Menschenleben lang krank sein… ohne Arbeit, vom Mitleid der andern abhängig, die ihm auf der Straße ein paar Groschen hin warfen.
Sein tägliches Leben hat ein Zentrum: Der Teich Betesda. Da schleppt er sich hin, und hofft, und wartet.
Aber seine Chancen stehen schlecht: Dann, wenn das Wasser in Bewegung gerät, dann sind immer die anderen schneller. Denn die haben Freunde, die sie dann ins Wasser tragen. – er aber nicht:“Keiner ist da, der mir hilft“, sagt er.
So bleibt der Teich Betesda für ihn nur eine theoretische Hoffnung. Das heilende Wasser ist nur ein paar Schritte entfernt, und trotzdem unerreichbar weit weg.

Aber was soll er anderes tun, als hier zu warten? Er sieht nur diese eine Chance in seinem Horizont. Also sucht er auch weiterhin täglich den Teich Betesda auf.

— Hilfe, die unverhofft kommt

Da liegt er also, wie immer, an seinem Stammplatz. Und dann kam da einer, den er gar nicht kannte: Er wusste nicht, wer Jesus war und was die Leute über ihn sagten.
Er wird sich wohl gewundert haben, dass dieser Fremde ihn ansprach, sich für ihn und sein langes Leiden interessierte. Denn normalerweise dachte hier am Teich jeder an sich selbst.
„Willst du gesund werden?“. Diese Frage klingt banal und Angesicht der Situation eigentlich überflüssig.
„Steh auf, nimm dein Bett und geh hin“. Dieser Satz klingt ebenso beiläufig und unspektakulär – sowie die ganze Situation da unten am Teich Betesda. Aber: Diese beiden Sätze markieren denen bedeutendsten Einschnitt im Leben dieses kranken Mannes.
Das Wunder seiner Heilung passiert so nebenbei: Plötzlich kann er aufstehen, laufen, seine Liegematte unter die Arme klemmen und hingehen, wo er will. Aber sein Leben ist von diesem Moment an ein völlig neues, mit anderer Qualität, mit neuen Möglichkeiten.

— Nicht knapp an der Chance des Lebens vorbeigeschrammt

Liebe Gemeinde,
je länger ich über diese Geschichte nachdenke umso mehr komme ich ins grübeln und ins Kopfschütteln.
Wie einfach hätte diese Wunderheilung schief gehen können! Wie schnell hätte es passieren können, dass der Kranke an seiner Heilung vorbei geschrammt wäre.

Schließlich ist ihm dieser Jesus völlig unbekannt gewesen. Er wusste nicht, wer ihm gegenüber stand; hatte keine Ahnung davon, dass der Christus bei ihm vorbeikommt.
Warum sollte man diesem Besucher zutrauen, dass man durch ihn gesund wird?

Und dann dieser Befehl „Steh auf“. Das klingt ja, als würde man als Gelähmter verspottet. Warum sollte sich in der Gegenwart dieses Jesus mit mir irgend etwas verändert haben? Schließlich konnte ich heute morgen auch noch nicht aufstehen! Der Lahme hätte ja sagen können: „Mein lieber Herr, bleibt doch einfach da, bis sich wieder das Wasser bewegt und hilf mir dann ins Wasser zukommen, statt mich hier zum Narren zuhalten“.

Es wäre nur zu verständlich gewesen, wenn der Kranke so reagiert hätte. Aber dann hätte es eben nicht funktioniert, dann wäre er ohne es zu wissen, an der Chance seines Lebens vorbei geschrammt.

Aber es ist eben nicht schief gegangen.
Dieser Kranke, der noch nie eine richtige Chance hatte geheilt zu werden, er gibt diesem fremden Jesus einem gewaltigen Vertrauensvorschuss. Er traut ihm das eigentlich Unmögliche zu.
Bisher gab es an seinem Horizont nur eine einzige Hoffnung: Den Teich. Aber jetzt traut er sich, auf etwas zu hoffen, was jenseits seines Horizonts liegt: ein Wunder, auf das er so nie zu hoffen gewagt hätte.
Also nimmt er sein Herz in die Hand und versucht es: Aufzustehen wie Jesus es ihm gesagt hat – und das Wunder geschieht.

— Ein Vorbild

Darin ist er mir schon ein Vorbild, unser Geheilter . Er schließt es nicht aus, dass Gott ihm auf eine Weise helfen könnte, die er noch gar nicht kennt, die er sich nicht vorstellen kann, die jenseits seines Horizonts liegt.
Sich von jemanden Unmögliches zu erhoffen, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie das überhaupt gehen soll. Menschen gegenüber ist so etwas eine Frechheit. Aber Gott gegenüber dürfen wir das – müssen es vielleicht sogar.

Ich gebe zu: Das hat auch etwas Blauäugiges.
Wenn man in einer aussichtslosen Situation erwartet, dass von Gott Hilfe kommt.
– Dass sich Dinge verändern, die doch eigentlich unveränderlich sind.
– Dass sich Menschen verändern, die doch schon immer so waren.
– Dass sich Beziehungen neu aufbauen lassen, die schon ewig verkorkst sind.
– Dass sich Kriege zu einem Ende kommen, die unvermeidlich scheinen.

In aussichtslosen Situationen Gottes Hilfe, Rettung erhoffen, – ohne zu wissen, wie es gehen könnte – so was ist eigentlich naiv.

So naiv wie es von diesem Lahmen war, einem unbekannten Besucher Glauben zu schenken und versuchen aufzustehen.
Aber sie haben ja gehört, was draus werden kann.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen

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